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MEINE BIOGRAFIE - EIN KOCHBUCH?



Monika Hasler, 4. September 23

Die Frage nach der Form einer Biografie stellt sich für Autoren der eigenen Lebensgeschichte immer. Keiner kommt darum herum, sich zu entscheiden. Ob es um die Episoden geht, die man erzählen will, ob es um die Reihenfolge der erzählten Geschichten geht oder um die Einbettung in ein umfassendes Thema, das sein Leben geprägt hat, jede Autorin, jeder Autor, der seine Lebensgeschichte erzählt, muss die Entscheidung treffen, auf was der Fokus liegen soll, und was weggelassen wird. Daraus ergibt sich eine klare Form und eine ordnende Struktur in der ganzen Biografie. Sie ist wie ein Gefäss, in das der Inhalt gegossen wird, um ihn dem Leser zu präsentieren.


Kann diese Form auch ein Kochbuch sein?

Ha, fantastisch, ein Kochbuch! Jeder liebt Kochbücher, und wenn es nur darum geht, es durchzublättern und sich von den tollen Fotos, die ein Kochbuch ausser den Rezepten meistens enthält, das Wasser im Munde zergehen zu lassen. Kochbücher gehören zu den meistgekauften Büchern überhaupt. Eine Biografie hingegen erwartet darin keiner.

Nun, kann eine Biografie die Form eines Kochbuches haben? Gute Frage. Hier eine Gegenfrage als Kurzantwort: Wer soll dir denn vorschreiben, in welche Form du deine Lebensgeschichte giesst? Es gibt keine solche Vorgabe. Natürlich ist der erste Gedanke, wenn man an eine Biografie denkt, dass die Geschichte ganz von vorne beginnt, nämlich bei der Geburt, und dann schön der Reihe nach erzählt wird bis zum Zeitpunkt, wo der Autor gerade steht. Das sagt die Logik und ist eine der üblichsten Erzählformen für Biografien. Doch Lebensgeschichten sind so vielfältig wie die Menschen, die sie erzählen.

Wenn ein Koch seine Biografie schreibt, ist es wohl das Naheliegendste, seine persönliche Geschichte mit seinen Eigenkreationen aus der Küche zu illustrieren, die ihm Erfolg gebracht haben. Nun, der berühmte Starkoch, der seine Autobiografie geschrieben und eigene Rezepte veröffentlicht hat, heisst Anton Mosimann und stammt aus einer Bauernfamilie aus Solothurn. Er war während 40 Jahren privater Koch der britischen Queen. Seine Kochbücher sind allerdings blosse Kochbücher, ohne sie abwerten zu wollen, und enthalten keine biografischen Erzählungen. Und seine Autobiografie, die 2017 erschienen ist, enthält keine Rezepte. Also keine Antwort auf die anfangs gestellte Frage.

Die Idee für ein Kochbuch gepaart mit den autobiografischen Geschichten, die über die Welt ihrer ersten neun Lebensjahre erzählen, hatte die erst kürzlich verstorbene Schauspielerin Ursula Cantieni. Cantieni wuchs in Klosters in den Schweizer Bergen auf, in einem Internat für Mädchen aus aller Welt. Das Töchterinstitut für Handel und Haushalt, das ihre Grosseltern führten, gibt es längst nicht mehr, denn die Bildungslandschaft hat sich selbstverständlich den heutigen Berufswünschen von jungen Frauen angepasst. Fertigkeiten der Haushaltung sowie die Kochkünste einer Hausfrau haben ihren Stellenwert radikal eingebüsst.


Zeugnisse einer verschwundenen Zeit

Biografien sind oft gerade darum sehr wertvoll und interessant, weil sie Zeugnis ablegen über eine Welt, die verschwunden ist. Diese Welt eines verschwundenen Mädcheninstituts in den Schweizer Bergen erweckt die Autorin Ursula Cantieni wieder zum Leben in ihren autobiografischen Geschichten. Sie beschreibt darin das Leben in dieser Töchterschule für Handel und Haushalt, an den Orten, wo sie es als Kind mit den jugendlichen Schülerinnen teilte, nämlich beim Essen. Im grossen Esszimmer, wo die Schülerinnen die Menüs auftischten, die sie unter Aufsicht der Haushaltslehrerin zubereitet hatten, das war der Ort im Chalet, wo klein Ursula täglich das Vergnügen hatte, dabei zu sein und zu lernen, was gepflegte Esskultur und Tischmanieren bedeuteten. Aus dieser Erfahrung heraus ergab sich für sie die Form des Kochbuchs als autobiografisches Zeugnis ihrer Kindheit. Cantieni führt in ihrer privaten Küche die Tradition fort, die sie in ihrem ersten Zuhause erlebt hat und kocht immer noch gerne die beliebten Gerichte, die in ihrer Bündner Familie damals aufgetischt wurden, wie die Bündner Gerstensuppe, Pizokel, Capuns, Maluns, & Co. Sie hat die Rezepte aus den Kochbüchern ihrer Grossmutter und Urgrossmutter gesammelt und sie zusammen mit ihren autobiografischen Geschichten neu arrangiert und drucken lassen. Leider ist das Buch nicht mehr erhältlich. Doch hier ist eine Kostprobe daraus:


Pizokel aus Kartoffeln

Zutaten:


150 g rohe Kartoffeln 100g Mehl 1 Ei 5 EL Milch 20g Butter Salz, Pfeffer, Muskat

Das Ei verquirlen und zusammen mit dem Mehl, der Milch, Salz, Pfeffer und Muskat zu einem glatten, geschmeidigen Teig verarbeiten. Die rohen Kartoffeln mit der Raffel fein reiben und unter den Teig mischen. Mit einem Tuch abdecken und eine halbe Stunde bei Zimmertemperatur ruhen lassen. Einen grossen Topf mit Salzwasser zum Sieden bringen. Von dem Teig mit einem Suppenlöffel kleine Klösse abstechen und ins leicht sprudelnde Wasser geben. Sobald die Pizokel auftauchen und an der Oberfläche schwimmen, mit einer Schaumkelle herausnehmen, abtropfen lassen und in einer Pfann in der geschmolzenen Butter schwenken- Nach Belieben mit Reibkäse bestreuen.




Kartoffelsalat ist Hausmannskost

Gerne gebe ich hier auch eine Kostprobe aus einer von Ursula Cantienis eigenen Kindergeschichten, in der ein typisches Gericht aus ihrem neuen Alltag symptomatisch war für eine Art Kulturschock in ihrem Leben. Das 10-jährige Mädchen Ursula war nämlich mit ihrer Mutter, die sich ein zweites Mal verheiratet hatte, zu ihrem neuen Vater, weg von den Schweizer Bergen nach Stuttgart gezogen. Diese Umsiedlung war weit mehr, als ein neues Zuhause zu beziehen. Cantieni erzählt:


„… Was sich rund um den Kartoffelsalat abspielte, traf den Nerv unserer neuen Situation. Allein schon das Wort Kartoffelsalat konnte die Mutter an den Rand eines Nervenzusammenbruchs bringen. Es war ein Synomym für den erlittenen Kulturschock.

Eigentlich dachten wir, Mutter und ich, wir würden nur in eine grössere Stadt umziehen, aber sonst sei alles ähnlich wie bisher, da ja dort (in Stuttgart) auch deutsch gesprochen wurde. Wir kamen gar nicht auf die Idee, dass wir in ein anderes Land zogen mit einer neuen Kultur, anderen Gepflogenheiten und einer anderen Vergangenheit. Weil wir überhaupt nicht damit rechneten, dass in Deutschland die Uhren anders ticken könnten, jedenfalls ich nicht, war das Erstaunen umso heftiger, und irgendwie erwischte es mich eiskalt.

An einem strahlenden Sommertag im August 1957 packte Onkel Thomas mich und meine Grosseltern in sein neues Cabrio, einen Daimler-Benz aus dem Jahre 1930 mit beigen Ledersitzen, um mich nach Stuttgart zu fahren. Was für ein Fahrgefühl und Reisegefühl! Aber bereits nach Überqueren der Schweizer Grenze, in Singen, stutzte ich zum ersten Mal. Mitten in der Stadt neben dem Bahnhof stand eine riesige Fabrik mit der Aufschrift MAGGI. Ich war der festen Überzeugung, die MAGGI sei eine Schweizer Fabrik wie die Schokoladenfabrik Lindt& Sprüngli. Grossvater beruhigte mich, das sei nur ein Ableger der Schweizer Firma, weil es hier kostengünstiger und praktischer für den Transport sei. Der nächste Schock waren die Strassenschilder. Ich dachte, die wären überall auf der Welt gleich, nämlich blau mit weisser Schrift. Doch hier plötzlich dieses dumpfe Gelb mit der kleinen schwarzen Schrift… Als wir kurz nach Rottweil einkehrten und ich ein Rivella trinken wollte, und die Bedienung fragte, „Was isch des?“ und ich darauf sagte: „Dann nehm ich halt ein Pepita“ und sie zurückgab: „Des hemmer net“, da schwante mir allmählich, dass hier einiges anders war.

….

Freilich ahnte ich an diesem ersten Tag in Deutschland noch nicht, dass vor allem der Kartoffelsalat sich wie ein roter Faden durch unseren Alltag ziehen würde und bei meiner Mutter immer wieder zu diesen eigenartigen nervlichen Zuständen führen konnte. Spätestens nach einem halben Jahr war mir klar, dass Kartoffelsalat ein Hauptgericht war, und dass die Mutter meines neuen Vaters, der Saarländer war, den besten Kartoffelsalat überhaupt machte. So war es eine der vordringlichsten Aufgaben meiner Mutter, diesen einzigartigen Kartoffelsalat auf den Tisch zu zaubern. Das Ergebnis waren aber endlose Diskussionen mit dem Vater, der sie belehrte: „Du darfst nicht so viel Öl dran tun“ oder „Das war die falsche Kartoffelsorte“ oder „Warum um Gottes Willen hast du denn jetzt Mayonnaise dran gemacht?“ und so fort.

Man wartete den nächsten Besuch bei der Oma ab, wo meine Mutter noch einmal von Grund auf eingewiesen werden sollte. Doch diese deutsche Hausmannskost – ein neues Wort für uns Schweizerinnen – konnte meine Mutter schon bald zur Weissglut bringen.

…“

 

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