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ER WAR MEIN LEHRER – EINE GESCHICHTSLEKTION, DIE UNTER DIE HAUT GING


Flüchtling Kurt Bergheimer Bigler
Dr. Kurt Bigler im Ruhestand


Von Monika Hasler, 21. August 2023

Hast du schon einmal die Erfahrung gemacht, dass du ganz überraschend über einen Menschen aus deinem Alltag die Wahrheit erfuhrst und ungläubig dachtest: „Nein! Wie das? Und ich habe all die Jahre nichts davon gewusst!“ Mir erging es so, als ich nach Jahren der Abwesenheit von meinem Heimatort dorthin zurückkehrte und mich umsah, wer von den alten Bekannten denn noch da war. Ich möchte diese Begebenheit aus meinem Leben erzählen, die meinen Blick auf einen Menschen in meiner Welt, als ich heranwachsende Jugendliche war, völlig veränderte. Es war die eigenhändig aufgeschriebene Lebensgeschichte dieser Person, die mir unerwartet in die Hände fiel und mir einen total veränderten Blick auf sie eröffnete.

Der Mensch, von dem ich hier erzähle, hiess ursprünglich Kurt Bergheimer und war einer meiner Lehrer in meiner beruflichen Ausbildung. Er unterrichtete Deutsch und Geschichte und war zudem unser Klassenlehrer. Ich empfand diesen Lehrer als schwierig, auf eigenartige Weise kompliziert und empfindlich, wenn man persönlich etwas von ihm wollte. Ich wollte aber nichts von ihm, war eine sehr introvertierte Jugendliche und fand keinen Draht zu ihm. Ihm näher zu kommen war auch nicht auf meinem Radar, ich war noch nicht erwachsen, und die Erwachsenen waren alle irgendwie unerreichbar für mich. Ich konzentrierte mich darauf, meine Pflicht zu erfüllen, die Ausbildung bald abzuschliessen und dann weiterzugehen.

Und doch waren es ungezählte Stunden während jener drei Jahre meiner Jugend, die ich im Schulzimmer dieses Lehrers absass, die letzten drei Jahre, bevor ich ins Berufsleben eintreten würde. Ich war enttäuscht vom Unterricht, hätte von einem Geschichtslehrer erwartet, dass mir endlich einmal einer, der es doch studiert hatte und Bescheid wusste, von dem grossen Ereignis auf der anderen Seite des Bodensees berichtete, von dem ich immer nur Bruchstücke gehört hatte wie, dass man täglich Kartoffeln und hartes Brot gegessen hatte damals, dass viele Lebensmittel rationiert gewesen waren, dass man vom Hügel hinter unserem Haus das grosse ‚Feuerwerk‘ drüben habe sehen können, Geschichten von Fliegerabstürzen, Schmuggel über die Grenze etc. Vor allem eine Atmosphäre der Schwere nahm ich wahr bei diesem Thema, das Gefühl, dass man über ein Tabu redete, dem sich niemand in meinem Umfeld so richtig zu nähern getraute, auch die Männer, die in unserem Land Schweiz Aktivdienst geleistet hatten, nicht. Das Thema wurde aber auch im Geschichtsunterricht meines damaligen Klassenlehrers mit keinem Wort bedacht. (Und ich hätte in meinen wildesten Fantasien nicht erahnen können, warum.)


Viele Jahre später

Es waren etwa 40 Jahre vergangen, als mir eines Tages in der Zeitung das Foto eines jungen Mannes auffiel, das mir irgendwie bekannt vorkam. Der Artikel schrieb über das Erscheinen eines Buches, in dem eine Studentin die Ergebnisse ihrer Recherche publizierte. Ihr Gegenstand war das Leben meines damaligen Geschichtslehrers, das sie als konkretes Beispiel benutzte, um den Umgang der offiziellen Schweiz mit geflüchteten Juden zu illustrieren.

„Was!? Mein Klassenlehrer war ein deutsch-jüdischer Flüchtling gewesen, der als Minderjähriger ganz allein aus Frankreich in die Schweiz geflohen war?“ Mein Schock und mein innerer Aufschrei waren echt. „Er hat doch Berner Dialekt geredet im direkten Kontakt mit uns, und sein Hochdeutsch klang so schweizerisch wie unseres auch!“, räsonnierte ich weiter. Die Sprache wäre ein erstes Anzeichen gewesen, unter Studenten vielleicht einmal nachzufragen, ob einer vielleicht mehr wisse über unseren Lehrer. Doch nie hatte es Grund gegeben, sich fremd zu fühlen in seiner Gegenwart. Er war einer von uns, ein Schweizer. Ich musste mir das Buch sofort besorgen und bekam es im historischen Museum anlässlich einer aktuellen Ausstellung über Kriegsflüchtlinge und Migranten. Ein brennend aktuelles Thema, in der Tat. Doch was hatte mein Lehrer damit zu tun? Es begann mir zu dämmern … Scheuklappen in mir bröckelten, ein starres Weltbild aus der Kindheit bekam Löcher, meine enge Sicht erfuhr eine dramatische Erweiterung. Eine der wesentlichsten Erkenntnisse, die sich mir schlagartig offenbarte, nachdem ich die Ausstellung besucht hatte, war: Geschichtsunterricht ist nicht etwas, das sich in Büchern und trockenen Unterrichtsstunden abspielt. Geschichte kann, wie diese Ausstellung es war, eine Sammlung von Geschichten lebendiger Menschen sein! Dokumentation von gelebtem Leben mit Lebensgeschichten von Menschen wie du und ich, die ohne Schuld und aus purem Zufall gerade zu dem bestimmten Zeitpunkt an dem bestimmten Ort waren, wo weltbewegende Geschichte sich abspielte, sodass sie zu Betroffenen und lebendigen Zeugen wurden.


Ich war baff und schämte mich irgendwie für meine naive Unwissenheit. Hier bekam ich nun endlich die Geschichtslektion, die ich damals so vermisst hatte. Eindringlicher und persönlicher ging es gar nicht. Und natürlich war mir jetzt klar, warum mein Lehrer das Thema einfach ausliess. Das Klassenzimmer war weder der Ort, noch war es sein Auftrag, über sein persönliches Schicksal zu reden. Das hätte uns alle überfordert. Heute, längst nach seinem Tod, ist genügend Zeit verstrichen, um die Geschichte aufzunehmen.


Im Rahmen der Ausstellung unseres Museums gab es auch Lesungen und Gespräche mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde unserer Stadt. Eine der Lesungen päsentierte Tagebucheinträge von deportierten Lagerinsassen. Wieder begegnete ich da meinem damaligen Lehrer. Ich halte heute eine Kopie seines eigenhändigen Berichtes in der Hand, den er im Jahr 1942 in der sicheren Schweiz, zwei Jahre nach seiner Deportation verfasste.

Gerne möchte ich hier einige Ausschnitte daraus publizieren.


Aus dem Bericht des Flüchtlings K. Bergheimer

Der Bericht beginnt so:

Ich wurde 1925 in Mannheim in eine jüdisch-orthodoxe Kaufmannsfamilie geboren. Mein Vater führte zwei Stoffläden. 1932 kam ich in die Schule – kurz vor Hitlers Machtergreifung. Nach der Primarschule war ich für zwei Monate auf dem Gymnasium, bis ich 1936 von der Schule gewiesen wurde. Nach meinem Ausschluss besuchte ich eine jüdische Schule in Mannheim. Dann kam die Kristallnacht. Wir brachten uns in Sicherheit, als die SA-Truppe kam. In dieser Nacht konnten wir nicht mehr zurück, … denn man riskierte, dass die Wohnung ausbrannte. Sie wurde vollständig zerstört, die Möbel waren nur noch Kleinholz, und es gab keinen Teller mehr, der noch ganz war. Ich erinnere mich an ein Detail: Die SA-Männer urinierten in die Konfitüre. Das war grauenhaft! Man schämte sich, Deutscher zu sein. …“


Bergheimer erzählt dann weiter, wie die Familie in den Zug gesetzt wurde, der Richtung Westen fuhr. Man hätte ihnen gesagt, dass sie auf ein Schiff gebracht würden, das sie nach Übersee fahren würde. Doch die Zugsfahrt endete in Südfrankreich, wo auf die Reisenden eines der schlimmsten Lager Frankreichs wartete. Dann berichtet der Häftling auf vielen Seiten über das demütigende Lagerleben. Als Schlüsselmomente seines Schicksals möchte ich hier die Abschnitte teilen, die er als die kleinen Wunder bezeichnete, die ihm das Leben gerettet haben.


Die kleinen Wunder, die mir das Leben gerettet haben

„ … Vier oder fünf Tage danach kam eine deutsche Kommission, SS und Gestapo-Leute ins Lager. Sie suchten Arbeiter für die Organisation Todt. Mein Vater, der bereits 60 war, kam nicht in Frage. Ich war fünfzehn und wurde ausgewählt. Sie sagten mir, ich solle meine Sachen packen. Da gab mir meine Mutter Rizinusöl. Ich musste erbrechen und bekam Fieber, da sind sie ohne mich abgefahren. Das war das erste Wunder, das ich erlebt habe – ich habe zwei oder drei erlebt.

Die Folge dieser Geschichte war ein Gelbfieber, von Juli bis September war ich in der Krankenbaracke. Ich spüre die Auswirkungen der Gelbsucht noch heute. Im Lager erzählte meine Mutter einem Besucher von ihrem intelligenten Sohn, der unbedingt studieren müsse. Der Herr hiess Lederer und war Anwalt. Er hatte Dutzende von Kindern gerettet, vielleicht hunderte. Er ging in die Lager und suchte einen Ort, wo er die Kinder verstecken konnte. Zu meiner Mutter sagte er: „Ich werde mich darum kümmern.“

1941 wurde ich mit seiner Hilfe in ein Kinderheim im Departement Creuse verlegt, das in einem Schloss untergebracht war. (….) Am 25. August 1942, gegen 5 Uhr morgens wurden wir aufgeweckt und der ganze Schlafsaal war voller Gendarmen. Alle Jugendlichen über fünfzehn Jahre hätten aufzustehen, hiess es, dann wurde eine Liste verlesen, an dessen Ende mein Name kam. Meine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Es war ein entscheidender Moment. Nur den Kopf nicht verlieren. So blieb ich einfach ruhig liegen, und als man nach meinem Namen fragte, gab ich einen anderen an. Somit war ich gerettet, denn alle anderen wurden deportiert und sind jetzt tot. Das war das zweite Wunder meines Lebens. Und in diesem Moment reifte in mir der Gedanke an eine Flucht in die Schweiz, wo ich Verwandte hatte.


Diese kleinen Wunder! Ich unterbreitete dem Heimleiter meinen Vorschlag. Er war aber sehr skeptisch und befürchtete die Reaktion der Vichy-Polizei. Im Einverständnis mit dem Heimdirektor leitete er aber dann die Flucht ein. Noch am gleichen Abend verliess ich den Ort mit einer auswendig gelernten Adresse im Kopf, wo man mir weiterhelfen werde. Ich reiste mit einem kleinen Köfferchen und trug die Pfadfinderuniform eines Eric Berger aus Strasbourg, mit einem Ausweis auf seinen Namen. Am Strassenrand gab es in jenem Spätsommer massenweise süsse Brombeeren. Sie nährten mich auf dem Weg zu einem weit abgelegenen Bahnhof. Eine Nacht lang war ich unterwegs. In Limoges, wohin ich mit einem Zug gelangte, wohnte der Arzt Périgord an der Avenue Maréchal Pétain. Er war der Sohn eines Herzogs von Périgord, ein Aristokrat. Ich blieb da eine Woche, dann wurde ich nach Annemasse an die Schweizer Grenze gebracht – wahrscheinlich kümmerte sich die Résistance darum, ich weiss es nicht. In Annemasse wurde ich in einer Familie untergebracht, bis ich die Schweizer Grenze überqueren konnte.

Wie ich über die Grenze in die Schweiz kam

Eines Mittags, bei hellstem Tageslicht, versuchte ich mein Glück. Ich nahm ein Messer mit, ein Netz und ein Buch, um einen Ausflug vorzutäuschen, und wanderte zum Grenzstacheldraht, bis ich das mir angezeigte Loch im Draht unweit des Schildwachen-Häuschens entdeckte. Mein Herz stand fast still – jetzt musste es sein. Noch einen Augenblick zögerte ich, dann warf ich schnell Messer und Netz beiseite und schlüpfte durch den Stacheldraht. Mein Herz klopfte zum Zerspringen und ich war gerade zur Hälfte hindurchgekommen, als ich einen Grenzwächter hinter mir brüllen hörte. „Nur nicht zögern“, raste es mir durch den Sinn. Ich riss mich buchstäblich durch den Draht und fiel auf der anderen Seite ins Wasser. Immer noch brüllte der Wächter hinter mir her. In sinnloser Angst watete ich durch den kleinen Fluss und kam auf der anderen Seite in ein Feld. In der Aufregung und Todesangst hatte ich die Richtung verloren und raste einfach weiter, bis ich zu einem Häuschen kam, wo eine Frau beschwichtigend zu mir sagte: „Ne vous en faites pas, vous êtes en Suisse.“ (Keine Sorge, Sie sind in der Schweiz). Ich konnte es kaum fassen, ich war in der Schweiz! Meine Erstarrung löste sich, und ich führte einen wahren Freudentanz auf. Die freundliche Frau schickte mich zu einem in der Nähe wohnenden Pfarrer, der mich erst einmal ein Bad nehmen liess… Er warnte mich dann, ich dürfe auf keinen Fall zur Polizei gehen, denn da würde ich gleich zurückgeschickt. So fuhr ich direkt weiter nach Basel zu meinen Verwandten. Mein Onkel war eine bekannte und einflussreiche Persönlichkeit und erreichte am nächsten Tag auf dem Polizeiposten, dass ich bleiben konnte. Wenn ich jemandem für mein Leben dankbar bin, dann ihm, denn zu diesem Zeitpunkt wurden alle Flüchtlinge zurückgewiesen. Das war ein weiteres Wunder.“










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