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6 MÖGLICHKEITEN FÜR EINEN ANFANG DEINER BIOGRAFIE

Die häufigste Frage, die mir von angehenden Autoren gestellt wird, ist die nach einem Anfang ihrer Lebensgeschichte. Wie soll ich anfangen? fragen sie mich. Es gibt so unendlich viel zu erzählen! jammern sie. Dabei liegt es doch eigentlich auf der Hand, dass jede Lebensgeschichte mit dem Anfang des erzählten Lebens beginnt, nicht?

Nun, ja, theoretisch. Wenn man der Biograf eines anderen Menschen ist, möchte man für die Nachwelt so vollständig und umfassend wie möglich Bericht erstatten, und das selbstverständlich von der Geburt bis zum heutigen Tag. Ein Autor aber, der seine eigene Lebensgeschichte schreibt, hat fast jede Freiheit, für seine Geschichte einen persönlichen Schwerpunkt zu setzen. Er kann sich auf einen Lebensabschnitt beschränken, berichtet er von einer aussergewöhnlichen Erfahrung, so richtet er sich vielleicht an eine bestimmte Leserschaft, er kann sich auf ein dominantes Thema seines Lebens fokussieren oder einen besonderen Lebensbereich ins Auge fassen. Um Vollständigkeit ist ihm nur gelegen, wenn er als Chronist seines Lebens möglichst genau rapportieren möchte. Sonst aber kann er von vielen Möglichkeiten, wie man seine Biografie beginnen will, auswählen. Sechs davon möchte ich hier aufzählen und mit Beispielen aus dem Buchmarkt belegen.

1. Beginne deine Lebensgeschichte mit deiner Geburt

Das ist der übliche Anfang einer Biografie. Er wird gewählt, wenn jemand sein ganzes Leben dokumentarisch festhalten will und seine Biografie als Dokument an die Nachwelt versteht. Da sind die nüchternen Fakten ebenso wichtig wie das Anekdotische. Die Lebensdaten sind quasi das Gerüst der biografischen Erzählung, und immer wieder werden Daten und Jahreszahlen genannt, wenn es ein wichtiges Ereignis oder eine einschneidende Veränderung zu verzeichnen gab.

Das erste meiner Beispiele von Biografien aus dem Buchhandel ist ein nur gerade 90 Seiten dünnes Bändchen von Albert Schweitzer, dem Urwalddoktor, der darin aus seiner Kindheit und Jugendzeit erzählt. Er beginnt klassisch mit seiner Geburt, fährt fort, dem Leser ein stimmungsvolles Bild von seiner Familie zu malen, von seinen Erfahrungen in Schule, Dorf und weiteren Verwandtschaft. Am Schluss des Büchleins fügt er für eine schnelle Referenz eine gut 6-seitige Chronologie seiner Lebensdaten bei.

Auch die Autobiografie Wolf Biermanns beginnt mit seiner Geburt. Er wurde 1936 in Hamburg als Sohn eines jüdischen Kommunisten geboren. Wichtig und programmatisch für das, was folgt, sind die Umstände, in die er hineingeboren wird. Vor allem die Tatsache, dass sein Vater vier Monate später inhaftiert und nach 6-jähriger Haft von den Nazis in Auschwitz ermordet wird, ist prägend für Biermanns Leben. So erahnt man gleich zu Anfang der Biografie die Schicksalsschwere, mit der dieses noch junge Leben belastet ist.

2. Beginne deine Lebensgeschichte mit deinen Eltern

Als Erwachsener Chronist deines Lebens ist dir bewusst, dass du sozusagen eine verglühende Sternschnuppe bist in einer Serie von Sternen, die am Himmel erscheinen und wieder vergehen, wie es alle deine Vorfahren getan haben. Aus der Distanz und im Rückblick siehst du deine Eltern am Anfang deines Lebens als die Menschen, die als erstes da waren, als du das Licht der Welt erblicktest. Sie waren während deiner Kindheitsjahre die ersten Bezugspersonen und werden dich bis zum Ende deines Lebens innerlich begleiten. Darum ist es ein guter Start einer Biografie mit seinen Eltern zu beginnen – vorausgesetzt du hast sie gekannt, und sie haben dich lange genug betreut, um dich massgeblich zu prägen. Vielleicht hast du das Bedürfnis, deine Eltern als Persönlichkeiten zu porträtieren, vielleicht willst du in deinem Buch würdigen, was sie dir mit auf den Lebensweg gegeben haben, einschliesslich der Art und Weise, wie sie dich geprägt haben.

Auf dem Buchmarkt habe ich diese drei Biografien als Beispiele gefunden, in denen die Autoren ihre Lebensgeschichte mit den Eltern beginnen:

Viktor Frankl, der Wiener Arzt, der als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt hat, beginnt seine Lebensgeschichte mit dem Titel ‚Was nicht in meinen Büchern steht - Lebenserinnerungen’ mit der Herkunft seiner Mutter, dann der seines Vaters, bevor er über seine Geburt schreibt. Über seinen Vater macht er die interessante Feststellung, dass er Student der Medizin gewesen war, ohne dass er damit hatte abschliessen können. Dem berühmten Sohn wir es gelingen.

Die Schweizer Journalistin Klara Obermüller nimmt sich aus dem Nachlass des Vaters ein Foto, das die noch unverheirateten Eltern gemeinsam mit der Grossmutter zeigt. Obermüller beschreibt als erstes einmal die Situation, die auf dem Foto festgehalten wurde, und stellt dann Vermutungen über die Zeit der Aufnahme an, bevor sie eintaucht in die Spurensuche nach ihrer eigenen Herkunft.

Eine Variation des Biografie-Anfangs mit den Eltern bietet Aharon Appelfeld, der erst kürzlich verstorbene jüdische Schriftsteller aus Israel. Er erinnerte sich bis ins hohe Alter immer wieder an die zwei Häuser, in denen er als Kind gelebt hatte: das Elternhaus und das Haus der Grosseltern. Von da aus war es kein grosser Schritt mehr, von den vier wichtigsten Menschen seiner Kindheit zu erzählen. Der autobiografische Roman trägt den Titel: Meine Eltern.

3. Beginne deine Lebensgeschichte mit deinen ersten Erinnerungen

Es ist ebenfalls Aharon Appelfeld, der sein Buch ‚Geschichte eines Lebens’ nicht mit seiner Geburt beginnt, sondern mit seinen ersten Erinnerungen, und wer kann sich schon an seine Geburt erinnern?! Aus der Erinnerung schöpft er dann den gesamten Stoff des Buches, in dem er über die Ermordung seiner Mutter durch die Nazis, den Verlust des Vaters in den Wirren des Krieges, seine Flucht und sein Überleben in den Wäldern der Karpaten erzählt bis hin zu seiner Rettung und dem Neuanfang als Jugendlicher in Israel.

4. Beginne deine Lebensgeschichte mit einem Brief an die erwachsenen Kinder

Der St. Galler Lehrer Norbert Hauser hat als 60-Jähriger Vater das Bedürfnis, seinen erwachsenen Töchtern sein Leben zu erzählen. Erst im reifen Alter erkennt er, dass er seinen zwei Mädchen zwar gerne Gute-Nacht-Geschichten erzählt hat, aber sonst ein eher schweigsamer Vater war und nicht viel von seinem Inneren preisgegeben hat. Es musste reifen. Er musste erst zur Sprache finden, um über seine eigene Kindheit und seine Eltern zu reden und aus der Perspektive des lebenserfahrenen Mannes die Worte dafür zu finden. Hauser beginnt seine Lebensgeschichte 'Zur Hochzeit in Kabul' mit einem Brief an seine erwachsenen Töchter, in dem er erklärt, warum er sich entschlossen hat, jetzt zu erzählen.

5. Beginne deine Lebensgeschichte mit dem Ereignis, welches dein Leben für immer veränderte

Der Filmemacher Clemens Kuby hat mehrere autobiografische Bücher geschrieben, die sich mit seiner Suche nach einer Erklärung für seine Spontanheilung befassen. Er hat als 33-Jähriger einen Sturz aus 15 Metern Höhe überlebt, brach sich dabei aber einen Lendenwirbel und war ab da querschnittgelähmt. Trotz aller Diagnosen der Ärzte verliess er ein Jahr nach dem Unfall die Klinik auf eigenen Beinen. Das ist das einschneidende Ereignis, das die Weichen seines Lebens neu gestellt hat. Damit beginnt sein Lebensbericht mit der Überschrift 'Unterwegs in die nächste Dimension'.

Auch der belgische Fussballprofi und Erfinder der neuartigen Gartenmöbel aus geflochtenen Plastikbändern, Bobby Dekeyser, beginnt seine aussergewöhnliche Unternehmer- und Lebensgeschichte mit dem Ereignis, das ihn bis ins Mark getroffen hat. Die Nachricht vom Sterben seiner noch jungen Frau trifft ihn im sprichwörtlichen Paradies einer Philippinischen Insel, wo er plant, ein Ferienresort zu bauen. Von da aus blendet er zurück und rollt seine ganze Geschichte von hinten auf. Die ungewöhnliche Geschichte trägt den Titel 'Unverkäuflich'.

Gibt es auch in deinem Leben ein solches ausserordentliches Ereignis? Wenn ja, so drängt es sich möglicherweise gerade auf, deinen Lebensbericht damit zu beginnen. Damit ist einfach erläutert, warum es in deinem Leben ein deutliches Vorher und Nachher gibt, die sich wesentlich voneinander unterscheiden. Dieses Ereignis gibt dem Erzählverlauf - und damit deinem Buch – bereits eine klare Struktur und einen Spannungsbogen, den du nicht weiter suchen musst.

6. Beginne deine Lebensgeschichte mit dem aktuellen Anlass, der dich dazu bewegte, deine Lebensgeschichte zu schreiben

Sascha Batthyany, der junge Schweizer Journalist und Schriftsteller mit ungarischen Wurzeln erzählt in seinem Buch von seinen Recherchen in Ungarn, in denen er ermitteln wollte, was damals, während der Verfolgung der Ungarischen Juden im 2. Weltkrieg, genauer gesagt im Frühjahr 1944, passiert war. Den Anstoss gab eine Kollegin im Redaktionsteam der Neuen Zürcher Zeitung, die ihm eines Tages einen Artikel auf sein Pult legte mit den Worten: „Was hat du denn für eine Familie?“ Ja, was hatte er denn für eine Familie? Das wollte er nun wissen. Er, der als gebürtiger Schweizer Sohn eines in die Schweiz geflüchteten Ungars war und vom Krieg wenig wusste. In 'Und was hat das mit mir zu tun?' erzählt er von seiner internationalen Suche nach den Spuren seiner aristokratischen Familie, die sich – wollte er dem besagten Zeitungsartikel Glauben schenken - mitschuldig gemacht hatte an den Kriegsverbrechen gegen die Juden.

Irvin Yalom hingegen, dessen Eltern seinerzeit vor der Verfolgung der Nazis in die USA geflüchtet waren, ist ein bekannter Psychoanalytiker in New York und beginnt seine 'Memoiren eines Psychotherapeuten' mit einem Traum. Der Traum führt ihn zurück in seine Kindheit in Washington DC, wo der betagte Autor vor mehr als acht Jahrzehnten als Sohn eines eingewanderten jüdischen Lebensmittelhändlers aufgewachsen war. Ausgehend von diesem Traum erzählt er seine ganze Lebensgeschichte. Auch ein Traum kann ein aktueller Anlass für eine umfassende Rückblende werden und am Beginn einer Autobiografie stehen, wie dieses Beispiel bezeugt.

Welchen Anfang wirst du wählen für deine Biografie? Eine der sechs vorgeschlagenen, oder wirst du die Liste fortschreiben mit einem Anfang, der genau auf deine persönliche Lebensgeschichte zugeschnitten ist?

Lass es uns wissen in deinem Kommentar auf der Facebook-Seite der Biografie-Werkstatt St.Gallen.

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