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EVELYNE BINSACK: EIN LEBEN FÜR DREI POLE – EINE BIOGRAFIE?

Evelyne Binsacks neues Buch hat den Titel 'Grenzgängerin - ein Leben für drei Pole' und erzählt von den wichtigsten drei Zielen ihres Abenteurerlebens. Ist ihr Buch nun eine Biografie oder ein Expeditionsbericht? Wann genau kann ein autobiografischer Bericht als Biografie bezeichnet werden?

Die Biografie-Werkstatt St. Gallen befasst sich in ihren Workshops mit biografischem Schreiben, das heisst dem schriftlichen Erzählen von Geschichten oder Episoden aus dem eigenen Leben. Wenn ein Autor oder eine Autorin an mehreren Workshops teilnimmt und zuhause weiter schreibt, also lange genug dran bleibt, bis alles erzählt ist, was erzählt sein will oder muss, so können die Geschichten bald ein ganzes Buch füllen. „Ist es dann eine Biografie, oder ist es eine Sammlung von Lebensgeschichten?“, wollte eine meiner Teilnehmerinnen wissen.

Vieles trägt die Bezeichnung Biografie

Auf der Suche nach einer gültigen Antwort habe ich angefangen, die Biografien auf dem Buchmarkt nach dem Lebensbereich abzusuchen, über den sich die biografischen Berichte erstrecken. Die Ausbeute ist eine Offenbarung. Es gibt alles. Die gängige Vorstellung, dass eine Biografie möglichst umfassend eine ganze Lebensgeschichte präsentiert, wird durch unzählige Varianten widerlegt. Es gibt die Künstlerbiografie, die zwar im ersten Teil ein wenig aus der Kindheit des Künstlers berichtet, sonst aber das Privatleben ausspart und während des ganzen restlichen Buches von Studienaufenthalten, Reisen, Ausstellungserfahrungen und der Entstehung seiner Werke berichtet. Für diesen Autor ist seine Biografie praktisch identisch mit seinem Leben als Künstler.

Biografien sind Karrieren, Erlebnisberichte, Erinnerungen, Entwicklungsgeschichten, Chroniken, Tagebücher und vieles mehr

Es gibt in der Abteilung Biografie den Erfahrungsbericht, in dem ein Autor von einer einzigen prägenden Erfahrung erzählt und wie er sich damit arrangiert hat oder inwiefern er darunter leidet. Beispiele dafür sind Entführung, Ausbruch aus den Fängen einer Sekte, Flucht, Gefangenschaft, Missbrauch, Heimaufenthalt etc. Neben dem Erfahrungsbericht gibt es die Bekenntnisse, die Politikerkarrieren und die Sportlerkarrieren, die Erinnerungen eines Müssiggängers, die Biografien von historischen Persönlichkeiten, die meistens nicht von ihnen selbst, sondern von einem Biografen verfasst wurden und hauptsächlich die Verdienste dieser Person herausschälen. Es gibt die Entwicklungsgeschichten, die einen inneren und äusseren Weg aufzeichnen, oft einen Aufstieg oder einen Niedergang, und es gibt die Familienchroniken und die Tagebücher. Erstaunlich häufig fand ich unter den Biografien auch dünne Bändchen, die nur eine Kindheit umfassen oder einen einzelnen Lebensabschnitt. Anstatt mit der Bezeichnung 'Autobiografie' oder 'Memoiren' waren diese eher überschrieben mit 'Rückblick' oder 'Erinnerungen'. Und das ist, was alle Biografien gemeinsam haben: Ihr Inhalt speist sich aus einem Rückblick auf Aspekte oder Episoden des eigenen Lebens und schöpft aus der Erinnerung.

Bücher halten nicht immer, was ihre Titel versprechen

Das Buch, das auf meinem Nachttisch liegt, ist der neue Bestseller von Evelyne Binsack, der, wie bereits gesagt, den Titel ‚Grenzgängerin - Ein Leben für drei Pole’ trägt. Im Shop des Verlages fand ich das Buch in der Rubrik Biografie. Der Untertitel ‚Ein Leben für drei Pole’ macht mich auch glauben, dass die Autorin ihr Leben für die drei Pole eingesetzt hat und in diesem Buch die Geschichte darüber erzählt. Aber Titel dienen oft mehr dem Marketing des Buches als der ganzen Wahrheit und haben in erster Linie die Aufgabe, den Leser neugierig zu machen. Wer wissen will, was wirklich dahinter steckt, muss das Buch lesen.

Die Biografie der Abenteurerin Binsack beginnt mittendrin im versprochenen Programm, nämlich mit dem Traum vom dritten ihrer angepeilten drei Pole, dem Nordpol. Die ersten zwei, den Südpol und den Mount Everest als höchsten Gipfel der Erde hat sie bereits erreicht. Ich erfahre zwar in zwei oder drei Rückblenden mehr über diese zwei zurückliegenden Expeditionen, in erster Linie aber befasst sich der vorliegende Bericht mit dem Unternehmen Nordpol, dem Evelyn Binsack den Namen "90° North - 100% Commitment" gibt. Ich erfahre viel über die umfangreichen Vorbereitungen und schliesslich de Durchführung der Expedition in vier Etappen. Ich stelle fest, dass ich, während ich dem packenden Bericht folge, die Frau hinter den erfolgreichen – ebenso wie den abgebrochenen - Unternehmungen sehr gut kennen lerne, da die Protagonistin freimütig Einblick gibt in ihre Gemütsverfassungen, in die Prozesse, die sie durchläuft, bis sie zur richtigen Entscheidung findet, und ihre Überlegungen, Gedanken und Empfindungen mit dem Leser teilt. Das ist es, was mich fasziniert an Biografien, dass ich sozusagen hineinsehen kann in den Menschen, der erzählt, ihm hinters Gesicht schauen und mit ihm fühlen darf. Ich komme diesbezüglich auf meine Rechnung mit dieser Biografie.

Bekomme ich auch den Überblick über das gesamte Leben Evelyn Binsacks? Nur andeutungsweise. Das Buch endet mit dem Erreichen des Nordpols und dann mit einer kurzen Schlussbilanz der Heimgekehrten aus dem wiedererlangten Alltag. Allerdings enthält der Bericht immer wieder kleine Fenster mit Blicken in andere Bereiche von Binsacks Leben, ohne dass sie ausführlich davon erzählt. So erfahre ich etwas über ihre Beziehung zu ihrer Mutter im Moment, wo sie im Zelt liegt und versucht, ein emotionales Tief zu überwinden vor dem Start ihres Alleinganges durch Spitzbergen. Auch andere Beziehungen und Lebensbereiche streift sie im Verlaufe ihres Erzählens. Ich erfahre in wenigen Sätzen über Binsacks Jugendzeit und den Trainer, der ihr viel bedeutet hat, ich lese über die Bedeutung der Freiheit und ihre Entscheidung, Bergführerin zu werden, auch über ein Tief nach dem Aus einer Partnerschaft. Die ganze Geschichte dieses Lebens in der selbst auferlegten Herausforderung der Extreme ist so packend und authentisch erzählt, dass ich während des Lesens vergesse, dass Evelyne Binsack ihre Biografie gar nicht selber geschrieben hat. Sie hat sich eine professionelle Texterin als Autorin geleistet, der sie ihre Abenteuer erzählt hat. Geht auch so.

Ich freue mich auf einen Kommentar oder eigene Erfahrungen zum Thema. Du bereicherst damit die Diskussion. Danke.

Mona

Deine Biografiebegleiterin


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