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"TAUSEND ÄNGSTE HAB ICH AUSGESTANDEN"

Die 68-jährige Rosa Spiess hat vor längerer Zeit angefangen, ihre Kindheitsgeschichten aufzuschreiben, weil sie ihr einfach keine Ruhe liessen. Als sie dann die Diagnose erhielt: 'Lungenfibrose - unheilbar', da beschloss sie, bei der Biografie-Werkstatt um Hilfe anzufragen, um ihre Geschichten zu sortieren und als Biografie herauszugeben. Das Projekt ist gelungen, und das Buch seit Oktober 2017 auf dem Buchmarkt erhältlich.

Wir haben von der Autorin Rosa Spiess die Erlaubnis erhalten, Ausschnitte daraus hier zu veröffentlichen. Hier ist Kapitel 3 aus ihrem Buch 'Guggerchlee & Habermarch':

Leseprobe:

"Da wir oben an einem Hang wohnten, ging es steil hinunter zum Rotbach, der beim Schwäbrig entspringt. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine hohe Felswand, von der immer ein Echo rüberkam, wenn man laut rief. Im Winter konnte man oft Rehe husten hören, wenigstens sagte das Mutter, wenn das schaurige Geräusch zu uns rüber tönte. Dann zog ich jeweils die Decke über die Ohren und am Morgen, wenn ich noch bei Dunkelheit durch den Wald in die Schule musste, fürchtete ich mich sehr. Auch wenn die Füchse heulten, trieb mir das einen Angstschauer den Rücken hinunter. Ich wusste, dass diese Tiere irgendwo im Wald waren, wo mich später mein Weg durch führte. Das jagte mir jeweils einen Schrecken ein. Ich hatte auch Angst, im Dunkeln aufs Klo zu gehen, denn es gab immer irgendwo etwas, das knirschte oder knackte. Auch als wir später Strom und elektrisches Licht im Haus hatten, gab es doch immer noch genügend dunkle Winkel, die mir einen Schreck einjagen konnten, denn Lampen gab’s nur in Stube, Küche und Stall.

Auch als ich bereits grösser war und wir in der Oberen Schwende in Teufen wohnten, fand ich es immer noch oft unheimlich. Zu Beispiel wenn ich um fünf am Nachmittag die Schule aus hatte, war es im Winter ja bereits dunkel. Der Heimweg von der Strasse weg über die Wiese war nicht beleuchtet, keine einzige Lampe leuchtete mir den Weg. Manchmal glaubte ich hinter den Obstbäumen Schatten zu sehen, die sich bewegten. Wenn ich dann ausser Atem zuhause ankam und davon erzählte, wurde ich ausgelacht. Oder wenn ich am Abend noch einen Eimer Wasser am Brunnen holen musste, sagte Vater jeweils zu mir, um mir die Angst ein wenig zu nehmen, er würde sich ans Fenster stellen, um aufzupassen. So ging ich zitternd zum Brunnen, um den 10-Liter-Eimer zu füllen, und kehrte damit schnurstracks wieder ins Haus zurück. Ich wusste aber, dass hinter dem Brunnenhaus jemand stand. Ich wusste auch, wer es war, der sich immer in der Nähe unsers Hauses herumschlich, und gerade deshalb war meine Angst so gross. Mir war auch klar, dass Vater nichts hätte tun können, falls ich bedroht worden wäre.

Das Bauernhaus, in dem wir wohnten, gehörte zwei ledigen Frauen, die beide etwa um die sechzig Jahre alt waren. Sie besassen am Südhang von Teufen einen zweiten Hof, wo ihnen ein Knecht bei der Arbeit half. Der schaute immer so finster drein, dass ich schreckliche Angst vor ihm hatte - und nicht weniger vor den beiden Frauen. Oft hörte ich nachts, dass jemand im Stall war, auch wenn keine Kühe drin standen. Der Kälblistall war normalerweise verschlossen. Aber wenn ich nachts Geräusche hörte und mich ans Fenster schlich, sah ich Licht dort drin. Dann konnte ich jeweils nicht mehr schlafen, spitzte nur noch die Ohren und hatte Herzklopfen. Ja, in Zeiten ohne Telefon oder gar Handy war man ganz auf sich gestellt und ohne Hilfe, wenn man in Not gewesen wäre.

In den Holzhäusern, in denen wir damals wohnten, gab es auch immer Mäuse, die in der Nacht zwischen den Wänden herumrannten. Man konnte sie ganz gut hören, wenn alle im Bett waren. Wie hasste ich diese Viecher! Als ich einmal einen Osterhasen, den ich als Geschenk gekriegt hatte, auf mein Nachttischchen stellte, hatten die Mäuse ihn am nächsten Morgen überall angeknabbert, und das direkt neben meinem Kopf, während ich geschlafen hatte! Ich war wütend und traurig.

Schlimm fand ich auch, dass meine Mutter, wenn sie Vater am Sonntag jeweils die Zeitung vorlas, die Seite mit den Todesanzeigen, Unfällen und Verbrechen nie ausliess. Da musste ich oft schlimme Dinge hören. Wenn ich später wieder allein in den kleinen Laden im Dorf einkaufen gehen musste oder beim Bauern ganz hinten im Tal unseren Fünfpfünder holte, hatte ich immer grosse Angst, durch den Wald zu gehen. Auf halber Höhe, auf der Alp Häldeli wohnte ein alleinstehender Mann, Herr Eugster. Der guckte immer so seltsam. Dazu hatte er einen Vollbart und trug oft ziemlich lange Haare. Ich wusste damals, als ich etwa fünf Jahre alt war, ja noch nicht, dass eines seiner Augen ein Glasauge war. Jedenfalls hatte ich auch vor ihm grosse Angst. Erst später, als ich bereits zur Schule ging, merkte ich nach und nach, wenn meine Mutter jeweils mit ihm sprach, dass er ein gutmütiger Mann war, der einfach sehr einsam lebte."

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